Umfasst der Pflichtteil auch Vermögenswerte, die vor dem Tod geschenkt wurden?

03. Januar 2025Von Dominik Lindner
Dominik Lindner

Ja, nach deutschem Erbrecht können Vermögenswerte, die vor dem Tod geschenkt wurden, in die Berechnung des Pflichtteils einbezogen werden. Hierfür gibt es einen Rechtsbegriff, den sogenannten Pflichtteilsergänzungsanspruch. Er funktioniert folgendermaßen:

 
1. Schenkungen und ihre Auswirkungen auf den Nachlass
1.1 Warum Schenkungen als
gelten Schenkungen, die der Verstorbene zu Lebzeiten gemacht hat, werden bei der Berechnung des Pflichtteils berücksichtigt, um ungerechte Kürzungen des Nachlasses zu verhindern. Ohne diese Regel könnten Einzelpersonen den Wert des Nachlasses strategisch reduzieren, um das Erbe der Pflichtteilsberechtigten zu begrenzen.

1.2 Schenkungen als Teil des Nachlasses
Diese Schenkungen werden bei der Berechnung des Pflichtteils wieder dem Wert des Nachlasses zugerechnet, auch wenn die geschenkten Vermögenswerte zum Zeitpunkt des Todes nicht mehr zum Nachlass gehören.

 
2. Die 10-Jahres-Regel für Schenkungen
2.1 Was ist die 10-Jahres-Regel?
Schenkungen, die innerhalb der letzten 10 Jahre vor dem Tod des Erblassers gemacht wurden, werden bei der Berechnung des Pflichtteils berücksichtigt. Schenkungen, die älter als 10 Jahre sind, werden in der Regel nicht berücksichtigt.

2.2 Jährliche Verringerung des Schenkungswerts
Der Wert einer Schenkung wird über den Zeitraum von 10 Jahren schrittweise verringert:

Im ersten Jahr nach der Schenkung wird der volle Wert berücksichtigt.
Ab dem zweiten Jahr verringert sich der Wert um 10 % pro Jahr.
Ab dem zehnten Jahr wird die Schenkung nicht mehr berücksichtigt.
2.3 Ausnahme für Ehegatten
Schenkungen zwischen Ehegatten werden immer berücksichtigt, unabhängig davon, wann sie gemacht wurden. Die 10-Jahres-Regel findet in diesem Fall keine Anwendung.

 
3. Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs
3.1 Hinzurechnung von Schenkungen zum Nachlass
Zur Berechnung des Pflichtteils wird der Wert der in Betracht kommenden Schenkungen zum Gesamtwert des Nachlasses zum Zeitpunkt des Todes hinzugerechnet.

3.2 Berechnungsbeispiel

Nachlasswert: 200.000 €
Schenkung 3 Jahre vor dem Tod: 50.000 €
Bereinigter Schenkungswert: 70 % von 50.000 € = 35.000 €
Gesamter Nachlasswert für Pflichtteil: 235.000 €
Der Pflichtteil wird dann auf der Grundlage dieses bereinigten Nachlasswerts berechnet.

 
4. Ansprüche gegenüber Schenkungsempfängern
4.1 Empfängerhaftung
Reicht das Vermögen des Nachlasses nicht aus, um den Pflichtteil zu erfüllen, können Antragsteller die Empfänger von Schenkungen zu Lebzeiten auf Zahlung in Anspruch nehmen.

4.2 Proportionale Ansprüche
Schenkungsempfänger sind in der Regel verpflichtet, den Wert der Schenkung zurückzugeben oder zu zahlen, jedoch nur bis zu dem Betrag, der zur Erfüllung des Pflichtteils erforderlich ist.

4.3 Rangfolge der Ansprüche
Die Antragsteller müssen zuerst ihren Anteil aus dem Nachlass selbst einfordern, bevor sie die Schenkungsempfänger belangen.

 
5. Ausschlüsse und Ausnahmen
5.1 Kleine Geschenke
Gewöhnliche Geschenke, wie Geburtstags- oder Urlaubsgeschenke, werden bei der Berechnung des Pflichtanteils nicht berücksichtigt.

5.2 Gemeinsames Vermögen
Wenn der Verstorbene und der Antragsteller gemeinsam Vermögen besaßen, kann der an eine andere Partei verschenkte Teil vom Pflichtteilsanspruch ausgeschlossen werden.

5.3 Schenkungen unter besonderen Umständen
Schenkungen im Rahmen gesetzlicher Verpflichtungen (z. B. Alimente oder Unterhaltszahlungen) werden nicht berücksichtigt.

 
6. Schritte für Antragsteller
6.1 Nachforschungen über Schenkungen zu Lebzeiten
Pflichtteilsberechtigte sollten untersuchen, ob der Verstorbene zu Lebzeiten bedeutende Schenkungen gemacht hat. Dazu kann die Überprüfung von Finanzunterlagen, Eigentumsübertragungen und Versicherungspolicen gehören.

6.2 Beantragung eines Nachlassverzeichnisses
Antragsteller können ein amtliches Nachlassverzeichnis beantragen, das Angaben zu den Schenkungen des Verstorbenen enthält.

6.3 Einreichen eines Ergänzungsanspruchs
Wenn berechtigte Schenkungen entdeckt werden, können die Antragsteller einen Pflichtteilsergänzungsanspruch einreichen, um sicherzustellen, dass diese in die Pflichtteilsberechnung einbezogen werden.

 
7. Schritte für Erben oder Schenkungsempfänger
7.1 Geschenke dokumentieren
Empfänger bedeutender Schenkungen sollten detaillierte Aufzeichnungen führen, einschließlich Datum, Wert und Zweck der Schenkung.

7.2 Verhandlungen mit Antragstellern
Erben oder Geschenkempfänger können mit Antragstellern verhandeln, um Streitigkeiten gütlich beizulegen, und dabei möglicherweise einen Teil des Geschenkwertes anbieten.

7.3 Lassen Sie sich rechtlich beraten
Anwälte für Erbrecht können bei Streitigkeiten im Zusammenhang mit Schenkungen zu Lebzeiten und Pflichtteilsansprüchen helfen und die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen sicherstellen.

 
8. Fazit
Vor dem Tod geschenktes Vermögen kann die Pflichtteilsberechnung nach deutschem Erbrecht erheblich beeinflussen. Der Pflichtteilsergänzungsanspruch stellt sicher, dass Anspruchsberechtigte nicht durch Schenkungen benachteiligt werden, die den Wert des Nachlasses mindern. Das Verständnis der 10-Jahres-Regel und ihrer Ausnahmen ist sowohl für Erben als auch für Anspruchsberechtigte unerlässlich, um ihre Rechte und Pflichten effektiv zu verwalten. Zur Lösung komplexer Situationen im Zusammenhang mit Schenkungen zu Lebzeiten und Erbansprüchen empfiehlt es sich, einen Rechtsexperten zu konsultieren.